Das doppelte Coming Out

Erfahrungen von Jan

Vielleicht zuerst ein paar Worte zu meiner Person: Also, ich bin 27 und habe Spina bifida im Bereich der Lendenwirbel und einen Hydrozephalus.

Damit verbunden sind bei mir nahezu alle gängigen „Nebenwirkungen“ wie Inkontinenz und Lähmungen beider Beine.

Ich bewege mich also rollend durch die Welt, in der meine Behinderung erst recht spät eine größere Rolle zu spielen schien. Bis dahin konnte ich „nur“ nicht laufen war aber sonst in jeder Weise in die Welt der Nichtbehinderten integriert, ich ging in den Regelkindergarten und später zur Regelschule.

Erst im Alter von ca. 8 Jahren wurde meine Behinderung wichtig, als mir meine damaligen Mitschüler teilweise massiv deutlich machten, daß ich anders war als sie und für viele Dinge nach ihrer Meinung nicht geeignet war. Damit begann für mich eine Zeit, die ich in der Rückschau als mein erstes Coming out bezeichnen würde. Die Zeit in der ich mich damit auseinandersetzen musste das meine Behinderung eben mehr ist als „nur nicht laufen zu können“.

Mit einsetzender Pubertät wurden die nichtbehinderten Jungs in meiner Umgebung zu einer Art wichtigem Vorbild, dem es in jeder Hinsicht nachzueifern galt. In erster Linie hieß dies für mich auch zu den Jungs in der Schule zu gehören und (mit ca. 14) bei den Mädchen zu landen. Natürlich konnte das nicht so einfach gehen und ich musste mir einen Weg ausdenken wie ich trotzdem nicht hintenanstand.

Es dauerte auch nicht lange bis ich im Kreise meiner Schulkameraden als schwul galt. Das war für mich natürlich doppelt schwierig, war ich doch nun nicht nur Aussenseiter wegen meiner Behinderung (daran hatte ich mich nun schon ziemlich gewöhnt). Der Gedanke wirklich nicht „auf Mädchen zu stehen“ war mir bis dahin nicht gekommen, schliesslich wusste ich ja was sein musste und hatte auch schon etliche Energie darauf verwandt eine Freundin zu finden. Ich wusste ich würde auch irgendwann eine Freundin finden, heiraten und eine Familie gründen, meine damalige Vorstellung von „Normalität“.

Ok, ich fand die Jungs in meiner Klasse bemerkenswert, wollte mit ihnen gerne befreundet sein (natürlich auf übliche Art und Weise) und mochte auch die meisten Zivis im Behindertenfahrdienst irgendwie sehr, aber schwul zu sein kam mir nie in den Sinn, eher wollte ich schon ein wenig so „normal“ sein wie die Jungs die ich kannte. Dass das Interesse an den Jungs irgendwie doch mehr war als üblich, merkte ich erst einige Zeit später. Ich hatte inzwischen einige gute männliche Freunde und das Bedürfnis nach mehr immer stärker wurde.

Jetzt hatte ich ein ziemliches Problem: ich wollte nun wissen was los ist, konnte allerdings mit niemandem drüber reden und Kontakte zu anderen Schwulen fehlten mir völlig. In meinem Bekanntenkreis (schon gar nicht unter meinen behinderten Bekannten) gab es keine offen Schwulen und die entsprechenden Anlaufstellen waren alle ohne eigenes Auto nicht erreichbar. Zusätzlich begannen mir Fragen im Kopf herumzuschwirren ob und wie denn ein zum heterosexuellen Leben alternatives Leben gestaltet werden könnte, wie das mit dem Sex ist und so weiter.

Auffallend war, dass in der „Behindertenszene“ das Thema Schwulsein irgendwie gar nicht auftauchte. Es schien klar zu sein, dass eine Beziehung nur zwischen einem behinderten Mann und einer nichtbehinderten Frau stattfinden konnte. Dabei stand auch der Charakter der Zweckgemeinschaft im Vordergrund, man tat sich zusammen um nicht alleine zu sein und scheinbar auch um so möglichst elegant das Versorgungsproblem nach dem Auszug bei den Eltern zu lösen. Sexualität wurde wenn überhaupt (noch) sehr untergeordnet „zugebilligt“.

Nunja, irgendwann kam dann mein 18. Geburtstag und mein eigenes Auto. Jetzt hatte ich endlich die Möglichkeit andere Schwule kennen zu lernen und mein zweites Coming out einläuten.

Ich kann mich noch gut an mein „erstes Mal“ in einer schwulen Jugendgruppe erinnern:

Ich hab mich mit heftigen Bedenken und einer Mordsausrede auf den Weg gemacht. Als ich dann endlich vor den Räumen der Jugendgruppe stand, stand ich unten vor einer breiten Treppe und hatte keine Möglichkeit um Einlass zu bitten. Als ich schon wieder (teils genervt teils erleichtert) abdrehen wollte flog die Tür auf und zwei Fummeltrienen stürmten die Treppe hinunter, beide sahen mich fragten ob ich zur Gruppe wollte und ehe ich mir eine Ausrede zur Flucht ausdenken konnte hatten die beiden mich schon die Treppe raufgeschafft und ich stand in den Gruppenräumen. Naja, in der Folgezeit wurde ich ein gern gesehenes Mitglied dieser und anderer Gruppen, und wurde zu sämtlichen Szeneevents mitgenommen. So erreichte ich auch die Läden die mir normalerweise verschlossen geblieben wären.

Der Einstieg war also geschafft und ich war (da ich im Umkreis der einzige behinderte Schwule war der in der Szene auftauchte) schnell recht bekannt. Die Reaktionen der nicht behinderten Schwulen waren sehr unterschiedlich. Einige schienen sich sehr gestört zu fühlen, andere hatten fanden es „gaaaaaaaaanz toll, dass ich mich trotz Behinderung in die Szene traute“, wieder andere versuchten sich ernsthaft mit mir auseinanderzusetzen… Hier prallten dann alle Vorurteile aufeinander die Nichtbehinderte über Behinderte haben könnten. Gängigstes Vorurteil war das man als Rollifahrer eh keinen steifen Schwanz kriegt und daher als Sexpartner uninteressant ist.

Allerdings merkte ich auch recht schnell, das ich eine Ausnahmeerscheinung war, die zwar als Gesprächspartner anerkannt war aber als potentieller Sexualpartner völlig unattraktiv war. Ich erfüllte halt nicht die gängigen Erwartungen hinsichtlich Erscheinung usw. Anstatt nun also meine eigene Sexualität auszuprobieren musste ich erst mal diverse Überzeugungsarbeit leisten, Hemmschwellen abbauen und eine Menge Abweisungen einstecken.

Einige Zeit später lernte ich zufällig in der Disko einen anderen jungen Rollstuhlfahrer kennen, der durch einen Unfall querschnittsgelähmt war mit dem ich dann einige sehr amüsante Erlebnisse hatte. Da er recht spät erst in den Rollstuhl kam war seine äußerer Gestalt weitgehend unauffällig, sodass man ihn von Zeit (wenn er nicht in seinem Rolli sondern neben mir auf einem Stuhl oder ähnlichem saß) für meinen Betreuer hielt… Kommentare wie: „wie schön das Du Abends mit dem (mir) in die Szene gehst“ waren an der Tagesordnung. Wenn dann klar wurde (sei es durch Aufklärung der Situation durch uns, oder durch ein späteres Wiedersehen im Rolli) klar wurde das er auch im Rolli sitzt schwand in den meisten Fällen wieder das Interesse.

In dieser Zeit entstanden dann auch erste sexuelle Kontakte und auch die ersten Versuche in Richtung Partnerschaft… Leider konnte ich mich diesen lange nur sehr zurückhaltend hingeben da ich aufgrund meiner Erscheinung, Inkontinenz und sexueller Funktionen schon eine ganze Menge Schwierigkeiten hatte.

Eher durch Zufall viel mir eine Info über die Freakshow, das Treffen schwuler und lesbischer Behinderter in die Hände und ich habe mich für das nächste Treffen angemeldet. Dort konnte ich dann endlich weitere Kontakte zu andern behinderten Schwulen knüpfen und konnte eine Menge neuer Impulse nachhause mitnehmen.

Nach der ersten Freakshow habe ich dann eine ganze Weile darüber nachgedacht welche Erwartungen ich an eine Beziehung habe und wie ich mit den Schwierigkeiten durch meine Behinderung umgehe. Gleichzeitig habe ich versucht im Internet, zunächst als yahoo-group, demnächst auch auf eigenen Webseiten, ein Angebot zu schaffen in denen sich schwule Behinderte miteinander Austauschen und Kontakte knüpfen können. Das Internet bietet sich m.E. als Medium für solch ein Angebot an, da hier auch Leute in Kontakt kommen können, die sonst nicht zueinander kommen könnten, da die Wege zu lang sind oder die Behinderung einen entsprechenden Ausflug unmöglich macht.


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